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Der Januarwind zerrte an seinem Schal. Mit jedem Schritt schlug die schwere Umhängetasche mit dem Laptop gegen seine Oberschenkel.
Er bemerkte nichts davon.
Ronan Howell überquerte mit schnellen Schritten die London Bridge von der Südseite der Themse Richtung Norden. Hätte er den Blick gehoben, hätte er zu seiner Rechten bereits sein Ziel sehen können. Number Twenty Fenchurch Street, der Wolkenkratzer, der wegen seiner markanten Form allgemein nur Walkie-Talkie genannt wurde.
Doch Ronan Howell hielt den Blick gesenkt. Seine Umgebung nahm er nicht wahr, zu sehr war er mit dem Tumult in seinem Kopf beschäftigt.
Das kann nicht sein Ernst sein. Nein, das darf einfach nicht sein Ernst sein.
Er hatte den Ausdruck wie vom Donner gerührt sein immer für ein abgeschmacktes Klischee gehalten. Doch jetzt wusste er, wie treffend dieser Begriff war. Denn Ronan fühlte sich tatsächlich, als hätte ihn etwas Dumpfes, Lautes, Ungeheuerliches getroffen. Aus heiterem Himmel.
Noch so ein Klischee.
Als er um einen Gesprächstermin gebeten worden war, hatte er gedacht, es ginge darum, die bisherige Zusammenarbeit fortzusetzen. Unter leicht geänderten Voraussetzungen, doch im Großen und Ganzen würde alles beim Alten bleiben.
Auf das, was ihn in der Suite im neununddreißigsten Stockwerk des Shard Hotels erwartet hatte, war er nicht vorbereitet gewesen.
Es ist erst ein paar Stunden her, da fand ich es noch lustig, dass ich zwei aufeinanderfolgende Termine in zwei der bekanntesten Londoner Skyscraper habe. Erst in der Shard, dann im Sky Garden.
Jetzt fand Ronan Howell nichts mehr lustig.
Er erreichte das Ende der Brücke, blieb kurz stehen und sah auf den Fluss. Schüttelte den Kopf, eilte weiter.
Vorbei an der U-Bahn-Station Monument, über die nächste Kreuzung, dann rechts abbiegen. Hoch überragte das Walkie-Talkie alle anderen Gebäude.
Sein Termin fand im Sky Garden statt, dem spektakulären Garten mit Aussichtspunkt auf den obersten Etagen des Hochhauses. Also richtete er seine Schritte zur Rückseite des Gebäudes, wo sich der Eingang für diese beliebte Touristenattraktion befand.
Mechanisch ließ er die strikte Sicherheitskontrolle über sich ergehen, zeigte seinen Ausweis vor, schob seine Tasche durch den Scanner und stand wenig später mit einer Gruppe aufgeregt durcheinander redender spanischer oder lateinamerikanischer Touristen in einem der Hochgeschwindigkeitsaufzüge, die direkt in den fünfunddreißigsten Stock fuhren.
Ich reiße mich jetzt zusammen und ziehe dieses Interview durch. Ich bin top vorbereitet, habe alle Fragen auf meinem Laptop. In einer halben Stunde sollten wir fertig sein. Dann überlege ich mir, wie es weitergeht.
Die Lifttüren öffneten sich. Die Touristen gaben begeisterte Laute von sich, Ronan hingegen hatte keinen Blick übrig für die spektakuläre Architektur. Im Gegensatz zu den anderen Besuchern strebte er auch nicht direkt den Aussichtsbalkon an, sondern lenkte seine Schritte zur Sky Pod Bar.
»Ronan Howell, ich habe eine Reservierung.«
Ein dezenter Blick auf ein Tablet und der Host nickte. »Ja, Mr. Howell, Ihr Gast ist bereits hier.«
Sehr gut, keine Wartezeit.
Der Host führte Ronan zu einem kleinen runden Tisch unmittelbar neben der Glaswand, die den Innenbereich vom Aussichtsbalkon trennte.
Matthew Snider, CEO eines globalen Technologiekonzerns und Ronans Interviewpartner, erhob sich von einem der beiden grauen Sofas, um den Journalisten zu begrüßen.
»Was für ein atemberaubender Blick, nicht wahr?«
»Ja, wirklich atemberaubend.« Ronan war nicht nach Smalltalk zumute, er wollte diesen Termin so schnell wie möglich hinter sich bringen. Er zog den Reißverschluss seiner Laptoptasche auf und hob das Gerät heraus. Während der Computer hochfuhr, bestellte er ein Mineralwasser mit Kohlensäure und erkundigte sich halbherzig bei seinem Gesprächspartner nach dessen allgemeinem Befinden.
Snider antwortete ausführlich, doch Ronan hörte ihm nicht zu. Sobald er das Dokument mit den Interviewfragen auf den Bildschirm geholt hatte, zog er die Mundwinkel in einem falschen Lächeln nach oben und sah Snider an.
»Das freut mich zu hören, Matthew. Wollen wir gleich loslegen? Ich weiß, Ihre Zeit ist kostbar.«
Snider neigte den Kopf. »Sie haben recht, der gute alte Spruch Zeit ist Geld gilt natürlich auch in meiner Branche.«
Ronan aktivierte die Aufnahmefunktion seines Smartphones und legte das Gerät auf den Tisch vor Snider, dann las er die erste Frage vom Bildschirm ab. »Ihre Firma bringt nächste Woche gleich mehrere neue Produkte auf den Markt. Bitte erzählen Sie mir ein wenig über diese Novitäten und was sie so besonders macht.«
Dies schien eine Frage ganz nach Sniders Geschmack zu sein. Ausführlich beschrieb er die einzelnen Produkte und deren Vorzüge.
Ronan starrte auf seinen Bildschirm, Sniders Worte erreichten seine Ohren nur als weißes Rauschen. In seinem Kopf liefen immer wieder Fetzen des Gespräches ab, das er in der Hotelsuite geführt hatte. Worte, die sich erbarmungslos in sein Gedächtnis gebrannt hatten.
Was mache ich jetzt nur?
»Ronan?«
Ronan zuckte zusammen, hob den Blick vom Laptop.
Fragend sah Matthew Snider ihn an.
»Oh, wunderbar, vielen Dank für diese ausführliche Antwort«, sagte Ronan rasch, um seinen Gesprächspartner davon abzulenken, dass er ihm nicht zugehört hatte. Ohne Übergang las er die nächste Frage ab. »Sie hatten ja in der Vergangenheit Probleme, auf dem Markt für Smart Speaker Fuß zu fassen. Wollen Sie dieses Marktsegment ausbauen oder sich auf Ihr bisheriges Kerngeschäft konzentrieren?«
»Nun, ich denke, wir sind durchaus gut aufgestellt, was dieses Segment angeht. Natürlich liegt unser Schwerpunkt vor allem auf dem Kerngeschäft, doch der Ausbau neuer Geschäftsbereiche wird in den kommenden Jahren immer wichtiger.«
Wieder driftete Ronan ab.
Ich werde alles offenlegen, hat er gesagt. Ich verstehe das einfach nicht. Dadurch zerstört er alles. Wie denkt er sich das überhaupt?
Ronan drehte den Kopf nach rechts, sah durch die riesige Glaswand. Hoch ragte die Shard auf der anderen Seite der Themse in den grauen Winterhimmel. Das höchste Gebäude Westeuropas. Mit einem Luxushotel der Extraklasse auf den Etagen vierunddreißig bis zweiundfünfzig. In der neununddreißigsten Etage hatte das Treffen stattgefunden.
Jetzt bin ich in der fünfunddreißigsten Etage, dachte Ronan zusammenhanglos. Führe ein Interview und versuche so zu tun, als sei alles ganz normal. Dabei liegt alles in Trümmern und ich habe keine Ahnung, wie mein Leben weitergehen soll.
Sein Blick fokussierte sich auf das, was direkt auf der anderen Seite der Glaswand lag. Der Aussichtsbalkon. Trotz des kalten Wintertages war der Sky Garden gut besucht, doch auf dem Balkon im Freien hielten sich im Moment nicht allzu viele Personen auf. Die meisten Besucher zogen es wohl vor, die Gartenanlagen zu bewundern oder sich in einem der Cafés und Restaurants zu stärken.
Kann es überhaupt weitergehen?
Ronan schluckte. Vor seinem geistigen Auge spulte sich ab, was ihm jetzt bevorstand. Seine Karriere wäre vorbei. Sein Ruf ruiniert. Seine Ehe? Lief sowieso nicht sonderlich gut. Die Hypothekenraten würde er nicht mehr aufbringen können. Seine Kinder …
Evie und Tom, wie soll ich ihnen je wieder in die Augen sehen können?
Er stand auf.
»Ronan, was ist mit Ihnen?«
Er ignorierte Matthew Snider, ging auf die Drehtür zu, die nach draußen führte.
Eisiger Wind schlug ihm ins Gesicht, zerrte am Jackett seines Anzugs.
Er hätte gedacht, dass die Plexiglasscheibe, die den Abschluss des Aussichtsbalkons bildete, viel höher wäre. Ungefähr auf Hüfthöhe befand sich zudem ein Geländer, das machte es ihm noch leichter.
All dies erfasste er im Bruchteil einer Sekunde.
Noch schneller traf er seine Entscheidung.
Es gab nicht viel Platz, um Anlauf zu nehmen. Ein großer Schritt, dann sprang er, die Arme nach oben ausgestreckt. Seine Hände schlossen sich um den Rand der Scheibe. Er zog sich hoch, setzte die Füße auf das Geländer. Stieß sich mit den Füßen ab, drückte gleichzeitig mit aller Kraft die Arme durch. Das Plexiglas schnitt in seine Handflächen.
Für einen Augenblick verharrte er wie ein Turner am Reck. Beide Arme durchgedrückt, der Oberkörper über dem Rand der Plexiglasscheibe.
Er hörte jemanden schreien, als er sich nach vorne kippen ließ.
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Dann fiel er.