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Leon

So sehr hat mir der Neid im Blut gesteckt, daß ich, wenn einer etwas froh genossen, sogleich von Neidesblässe ward gefleckt.
Leon trat ans Fenster und hob das weiße Druckerpapier gegen das Licht.
Nichts. Nur diese drei Zeilen, ausgedruckt in einer schlichten Schriftart.
Keine Abdrücke, keine Flecken, keine mit Geheimtinte verfassten Botschaften.
Was soll der Quatsch?
Leon las die Zeilen ein zweites Mal. Doch der Sinn der in altertümlicher Sprache und in Reimen abgefassten Botschaft über eine vom Neid zerfressene Person erschloss sich ihm nicht.
Er schüttelte den Kopf. Heftig. Dann zerknüllte er den anonymen Brief, presste ihn in seiner zur Faust geballten Hand zusammen. Pfefferte den Papierball in eine Ecke.
Dies war nicht die erste mysteriöse Nachricht ohne Absender, die Leon erhalten hatte. Vor zwei Wochen fand er zum ersten Mal ein schlichtes weißes Blatt Papier im Briefkasten seiner Villa. Kein Umschlag, einfach nur ein in der Mitte gefalteter Bogen in DIN A4-Größe. Darauf in gestochen scharfer schwarzer Schrift einige rätselhafte Zeilen, die für Leon keinen Sinn ergaben.
Leon hatte den Ausdruck damals zusammen mit den Werbeprospekten, die trotz des Schildes Bitte keine Werbung eingeworfen worden waren, in die Altpapiertonne befördert. Hatte keinen zweiten Gedanken daran verschwendet.
Bis einige Tage später wieder ein Brief auftauchte. Und noch ein paar Tage später der nächste.
Vielleicht ein durchgeknallter Fan, der herausgefunden hat, wo ich wohne? Aber was sollte ein Fan mit solchen Versen bezwecken wollen? Mir seine Qualitäten als Songschreiber vorführen, in der Hoffnung auf eine Zusammenarbeit?
Nein, das konnte nicht sein. Die Lyrics von Leon Keyls Band Rising Embers waren alle englisch, nicht deutsch.
Und selbst wenn, wer sollte so einen gereimten Schwachsinn singen wollen? Ich ganz bestimmt nicht.
Leon ballte die Hände zu Fäusten und wandte sich vom Fenster ab. Wer auch immer es war, der Leon diese seltsamen Botschaften in den Briefkasten steckte, er würde es nicht schaffen, auf diese Weise seine Aufmerksamkeit zu erregen.
Vielleicht sollte ich mich mal ein paar Nächte lang auf die Lauer legen und diesem Kerl gehörig die Meinung sagen. Oder eine Minikamera mit Nachtbildmodus installieren, damit ich sehe, wer mir diesen seltsamen Streich spielt.
»Leo?«
Er hob den Kopf. Elina stand im Türrahmen, wie so oft hatte er sie nicht gehört. Der dicke Teppich im Flur hatte ihre Schritte nicht nur gedämpft, sondern komplett verschluckt.
»Soll ich dich nicht doch fahren?«, fragte er.
Elina lächelte ein wenig gequält. Sie hob die rechte Hand in einer abwehrenden Geste. »Nein, das ist wirklich nicht nötig. Das Taxi ist gleich da.«
Leon trat auf sie zu und nahm sie in die Arme.
Wie schrecklich dünn sie ist.
Seine Frau schmiegte sich an ihn, umschlang ihn mit beiden Armen.
Die Türklingel.
Elina löste die Umarmung, machte einen Schritt auf die Treppe zu. »Bis Sonntagabend«, sagte sie über die Schulter.
Leon wollte ihr folgen, wollte sie bis zur Haustür bringen, bis zum Gartentor sogar, wollte zusehen, wie sie in das wartende Taxi stieg. Ihr nachblicken und sich wünschen, sie würde bei ihm bleiben.
Doch er wusste, dass ihr das nicht gefallen würde. Also blieb er, wo er war. Auf der Schwelle zu seinem Homestudio.
»Hab viel Spaß in Berlin, mein Sonnenstern«, sagte er.
Noch ein Blick über die Schulter, noch ein Lächeln, weniger gequält dieses Mal.
»Danke«, sagte sie. Dann stieg sie die Treppe hinunter, verschwand aus seinem Blickfeld. Lautlos, auch die Treppe war mit dickem Teppich ausgelegt.
Wenig später hörte Leon die Haustür ins Schloss fallen.
Führ dich nicht so auf, es sind doch nur etwas über achtundvierzig Stunden.
Er freute sich ja, dass es Elina so viel besser ging, dass sie die Einladung zur Geburtstagsparty einer Freundin in Berlin angenommen hatte. Diese Ablenkung würde sie sicher aufheitern. Und wenn Elina zurzeit etwas gebrauchen konnte, dann war das Aufheiterung.
Auch dass sie sich entschieden hatte, nicht den Zug zu nehmen, sondern zu fliegen, sah Leon als gutes Zeichen.
Aber trotzdem blieb da dieses leise Gefühl der Beunruhigung tief in seinem Inneren.
War es wirklich eine gute Idee, dass sie alleine wegfuhr? Hatte sie sich tatsächlich schon so weit erholt, dass diese Reise sie nicht zu sehr stressen würde?
Leon drehte sich abrupt um und ging zurück in sein Studio. Setzte sich vor den Flachbildschirm, auf dem bereits Logic Pro geöffnet war.
Zurück an die Arbeit.
Er öffnete den Song, an dem er am Vortag gearbeitet hatte, und schaltete die beiden Lautsprecher ein, die rechts und links des Monitors auf dem Arbeitstisch standen. Dann spielte er die Demoaufnahme des noch titellosen Tracks ab.
Nach nur einer Minute hielt er die Wiedergabe an, schaltete die Monitorboxen wieder aus und griff stattdessen nach seinen Kopfhörern. Er hörte sich den Song bis zum Ende an. Die Falten auf seiner Stirn wurden immer tiefer.
Nein, das haut so alles nicht hin.
Er nahm die Kopfhörer ab und stand auf, trat wieder ans Fenster. Sah in den Garten hinab, über die grüne Rasenfläche bis hin zum schmalen Band des Schwabinger Baches, der träge dahinfloss. Am anderen Ufer die ersten Bäume des Englischen Gartens.
Was fehlt diesem Song? Irgendwo ist mir auf dem Weg von der ersten Idee bis zu diesem Demo etwas verloren gegangen.
Leon war der festen Überzeugung, dass seine besten Songs entstanden, wenn er einen Teil seines Selbsts darin verarbeitete. Er musste einen Punkt erreichen, an dem er nicht mehr wusste, wo sein Bewusstsein endete und der Song begann. Wenn er Musik und Lyrics schrieb, mussten sie in diesem Moment das Wichtigste in seinem Leben sein, sie mussten ihm alles, einfach alles bedeuten.
Es ist ziemlich einfach, einen Song zu schreiben. Es ist verdammt schwer, einen großartigen Song zu schreiben.
Letzteres war ihm mit diesem Track leider nicht gelungen. Zumindest noch nicht.
Aufgeben, was Neues anfangen? Oder eine Weile ruhen lassen und dann mit frischen Augen und vor allem Ohren weiter daran arbeiten?
Er zögerte. Normalerweise war er sehr entscheidungsfreudig, wenn es um seine Arbeit ging. Doch in diesem Fall wusste er nicht, was er tun sollte.
Abstand, ich brauche erst mal Abstand.