1

Im Garten des Horniman Museums herrschte Hochbetrieb. Familien mit Kindern, Pärchen, Touristen. Manche hatten ein Picknick mitgebracht und sich auf dem Rasen niedergelassen, andere bewunderten den Ausblick, der an diesem klaren Tag von Forest Hill bis weit in den Norden Londons reichte. Sogar das Wembley-Stadion war in der Ferne zu sehen.
Doch all das interessierte Mia nicht.
Das Wetter, die Aussicht, die Menschen.
Sie hatte nur Augen für die schwarzhaarige Frau mit dem Kinderwagen.
Im Moment hatte diese sich neben dem kleinen weißen Pavillon in Pose geworfen und schmollte in die Kamera ihres Smartphones. Neigte den Kopf mal nach rechts, dann wieder nach links. Setzte ein breites Lächeln auf, das perfekt gebleichte Zähne sehen ließ. Legte einen Finger an die Lippen.
Soll wohl neckisch aussehen.
Das kleine Mädchen im Buggy strampelte mit den Beinen. Ihre Lippen bewegten sich, es sah aus, als plappere sie fröhlich vor sich hin.
Die Frau beachtete das Kind nicht, war damit beschäftigt, auf dem Display ihres Handys herumzuwischen.
Wahrscheinlich sucht sie jetzt ein Foto aus, das sie auf Instagram hochladen kann.
Die Kleine zog sich eine der knallroten Schleifen, die ihre Rattenschwänze zusammenhielten, aus dem Haar, betrachtete sie kurz, warf sie weg. Lachte.
Ihre Mutter bemerkte von all dem nichts.
Mal sehen, ob ich richtig liege.
Mia wandte den Blick von der Schwarzhaarigen ab und zog ihr eigenes Smartphone hervor. Entsperrte das Display und rief Instagram auf. Navigierte zum Profil von Lavinia Johnstone.
Fast neuntausendfünfhundert Abonnenten hatte das Profil. Und diesen war gerade ein neues Foto präsentiert worden. Lavinia mit geschürzten Schlauchbootlippen, im Hintergrund der strahlend blaue Himmel und ein Teil des weißen Holzpavillons.
Mia verzog den Mund, als sie sah, dass es sogar schon erste Reaktionen auf dieses Foto gab. Schnell steckte sie das Telefon ein und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Realität.
Lavinia kniete vor dem Kinderwagen und band ihrer Tochter die Haare wieder zusammen.
Ich weiß genau, was jetzt gleich kommt.
Mit beiden Händen fuhr Lavinia ihrem Töchterchen durch die Haare. Die Kleine lachte mit offenem Mund. Lavinia presste ihr Gesicht neben das ihrer Tochter, dann hob sie den rechten Arm und brachte das Smartphone in Position.
Einige Minuten schäkerte Lavinia mit ihrer Tochter in Richtung Handykamera, dann stand sie wieder auf. Schenkte ihre ungeteilte Aufmerksamkeit der Fotoauswahl, merkte nicht einmal, dass die Kleine den Kopf in den Nacken gelegt hatte und zu ihr aufsah.
Du hast ihre Liebe nicht verdient. Du hast überhaupt keine Liebe verdient.
Mia wusste genau, dass es sich nur noch um Minuten handelte, bis auf Lavinias Instagram-Profil ein Foto auftauchen würde, das sie gemeinsam mit Töchterchen Nica zeigte. Dutzende begeisterter Kommentare würden eintrudeln, würden Nica als goldig, süß und anbetungswürdig bezeichnen und Lavinia als gute Mutter.
Wenn die wüssten. Wenn die die Realität sehen könnten. Jemand wie Lavinia sollte überhaupt kein Kind haben dürfen.
Mia drehte sich um und ging auf den Ausgang zu.
Für heute hatte sie genug gesehen.

2

Amber beugte sich vor und legte die Blumen ab. Sie hatte sie aus der Zellophanhülle genommen, die sie nun in der Hand zerknüllte und in die Jackentasche schob.
Schweigend verharrte sie einige Minuten, ließ ihren Blick über den Grabstein gleiten. Sie kannte jedes Wort, jede Ziffer, jeden einzelnen Buchstaben, hätte die Inschrift aus dem Gedächtnis nachzeichnen können, so viel Zeit hatte sie schon hier auf diesem Friedhof verbracht.
Du fehlst mir so sehr.
Sie streckte eine Hand aus und strich sachte über den immer noch neu aussehenden Stein. Glatter, kühler Marmor unter ihren Fingerspitzen.
Trotz der warmen Maisonne fröstelte sie ein wenig.
Dann berichtete sie ihm mit leiser Stimme von ihren Plänen. Erzählte ihm von ihren Wünschen für die Zukunft und davon, was sie bereits unternommen hatte, um diese Wünsche Wirklichkeit werden zu lassen.
»Die neue Wohnung war ein Glücksgriff, das merke ich jeden Tag aufs Neue. Ich fühle mich endlich wieder wohl in meinen eigenen vier Wänden. Jetzt, wo nicht mehr in jedem auch noch so verborgenen Winkel Erinnerungen lauern. Jetzt ist alles neu und frisch, das tut mir gut.«
Sie hielt inne, ließ den Blick über den Friedhof schweifen. Nur vereinzelt sah sie Besucher, die meisten waren wahrscheinlich gleich morgens hier gewesen, um sich dann den Rest des Tages anderen Dingen widmen zu können.
Amber schluckte, sah wieder den Marmorgrabstein an.
»Das wollte ich dir nur sagen. Dass es mir jeden Tag ein klein wenig besser geht. Dass ich dich aber trotzdem immer vermissen werde.«
Nach einem letzten langen Blick auf den eingemeißelten Namen wandte sie sich zum Gehen.
Sie hatte noch etwas vor heute.
Zwei Dinge genauer gesagt.

3

Amber tippte den Zugangscode ein und zog die Metalltür auf. Nach dem Verkauf ihres Hauses hatte sie einige Dinge, die sie zwar behalten wollte, die in der neuen Dreizimmerwohnung jedoch keinen Platz fanden, bei EZ Storage eingelagert.
In dem kleinen Raum befanden sich ein Dutzend Gitarrenkoffer, Instrumente, die ihrem verstorbenen Ehemann Sean gehört hatten. Dazu kamen einige Kisten und Kartons mit seinen Festplatten, Erinnerungsstücken und anderem Kleinkram.
Amber kniete sich vor den ordentlich nebeneinander aufgereihten Gitarren auf den Boden.
Eine akustische, keine elektrische.
Die vier Koffer, die Akustikgitarren enthielten, standen ganz rechts.
Die hübsche blaue mit den schwarzen Intarsien, die gefällt ihm sicher.
Im zweiten Koffer, den sie öffnete, befand sich das gesuchte Instrument. Vorsichtig hob sie es heraus und legte es quer über die anderen Koffer, um das Zubehörfach zu öffnen. Darin befanden sich ein zusammengerollter Gitarrengurt, einige Plektren und ein Päckchen mit Saiten.
Zufrieden klappte sie das Fach zu und legte die Gitarre in den Koffer zurück. Sie ließ die Schlösser zuschnappen und verließ EZ Storage.
Auf dem Parkplatz verstaute sie das Instrument im Kofferraum ihres Wagens, dann gab sie eine Adresse in ihr Navi ein.
Hoffentlich ist nicht zu viel Verkehr. Ich habe keine Lust, stundenlang durch London zu kurven.
Sie ließ den Motor an, schaltete Musik ein und drehte die Lautstärke auf. Richie Kotzens neuestes Album würde ihr die Fahrzeit verkürzen.
Sobald sie sich in den Verkehr auf der Finchley Road eingefädelt hatte, sang sie lauthals mit. Warrior, einer ihrer Lieblingstracks.
Heute ist ein guter Tag, trotz Friedhofsbesuch.