1

Wärme umfing ihn, als er durch die Tür trat.
Er schüttelte sich. Trotz der vielen Kleidungsschichten hatte er draußen gefroren und der plötzliche Übergang von Kälte in Wärme ließ ihm Schauer über den Körper laufen.
Leichter Weihrauchgeruch hing in der Luft, durch das Oberlicht fiel an diesem düsteren Novembernachmittag noch ein Rest Tageslicht ins Kircheninnere.
Er war nicht der Erste, der hier Unterschlupf suchte.
In den Kirchenbänken saßen bereits etliche Personen mit gesenkten Köpfen, so als würden sie beten.
Als er seitlich an den Bänken vorbei nach vorne in Richtung Altar ging, sah er, dass sich in einer Bankreihe sogar jemand der Länge nach ausgestreckt hatte und schlief.
Er setzte sich in die dritte Reihe, ein Stück vom Mittelgang entfernt und stellte seinen Rucksack neben sich auf den Boden. Zog beide Hände in die Ärmel seines fleckigen Mantels, rutschte auf der Holzbank herum, bis er die bequemste Position gefunden hatte. Senkte den Kopf.
Wenige Minuten später war er eingeschlafen.

2

Sie drückte die Tür auf.
Gestern war sie schon hier gewesen, fest entschlossen, ihren Plan in die Tat umzusetzen. Hatte stundenlang im Halbdunkel gesessen. Hätte gebetet, wenn sie an Gott glauben würde.
War schließlich aufgestanden und gegangen.
Hatte heute denselben Drang verspürt, hierherzukommen und es zu tun.
Diesen Drang, der sie innerlich fast zerriss.
Den sie nur auf eine Weise loswerden könnte.
Es gibt nur diesen einen Weg.
Mit gesenktem Kopf lief sie geradeaus, sah sich nicht um.
Blieb stehen, atmete tief ein.
Hob den Kopf.
Starrte einen Moment blicklos auf den schlichten Altar, die Tapisserie darüber.
Drehte sich um.
Ein halbes Dutzend. Mindestens.
Mehr als gestern.
Sie setzte sich wieder in Bewegung, langsam.
Gleich hier vorne.
Sie schob sich in die Bankreihe.
Setzte sich neben die Gestalt, die einen dunklen, schäbigen Mantel trug.
Zuckte zusammen, als die Holzbank leise knarrte.
Ihre Brust drohte zu zerspringen. Doch es war nicht ihr Herzschlag. Es war dieses reißende Drängen, tief in ihr drin.
Ihre Hand glitt in die Manteltasche, schloss sich um den Dolch.

3

»Hung up on you, hung up on this string you are pulling me through.«
Amber stand an der kleinen Bar im hinteren Bereich des Water Rats. Ein Pint Stella Artois für sich selbst und ein Pint Strongbow Cider für Danny. Als sie bezahlt hatte, sah sie sich suchend um.
Danny stand in der Mitte des Raumes, den Blick zur Bühne gerichtet, wo die Band The Vone gerade ihren Song Hung Up On You zum Besten gab.
Vorsichtig, ein Auge auf die beiden vollen Pintgläser gerichtet, bahnte Amber sich einen Weg durch die Zuschauer.
»Ich bin echt froh, dass du mich heute Abend mitgenommen hast«, rief Danny ihr zu, als er sein Glas in Empfang nahm.
»Wieso? Wird dir die Livemusikszene in Südlondon schon zu langweilig?«
Danny lachte. »Nein, aber es ist schön mal einen ganz anderen Club kennenzulernen.« Er nahm einen Schluck von seinem Cider.
Danny lebte und arbeitete noch nicht lange in London. Da er die erste Zeit durch seine Arbeit bei der Metropolitan Police voll eingespannt gewesen war, hatte er erst in den vergangenen Monaten die Londoner Clubs erkunden können.
Die große Leidenschaft für Rockmusik verband Danny mit Amber. Die ehemalige Detective Chief Inspector der Met hatte bei einem Fall als externe Beraterin gearbeitet, so hatten sie und Detective Inspector Danny Gibson sich kennengelernt.
Aber diese Beratungstätigkeit war eine einmalige Ausnahme gewesen, hatte Amber sich geschworen. Erst im April war sie freiwillig frühzeitig aus dem Dienst ausgeschieden und wollte mit Mordermittlungen nichts mehr zu tun haben.
Ich muss erstmal mein Leben wieder auf die Reihe bekommen. Vielleicht suche ich mir dann auch wieder einen Job, ich will ja schließlich nicht bis ans Ende meiner Tage untätig herumsitzen. Aber zur Polizei gehe ich nicht mehr.
Auf der Bühne spielte der Gitarrist von The Vone den Eröffnungsakkord des nächsten Songs. Sofort erkannte Amber ihren Lieblingstrack dieser jungen Londoner Band, Burn to Ashes.
Sie nahm einen großen Schluck von ihrem Bier, damit beim Mitwippen nichts aus ihrem Glas schwappte. Eine Weile konzentrierte sie sich voll und ganz auf das Geschehen auf der Bühne, ließ keinerlei Gedanken daran zu, was in ihrem Leben zurzeit alles im Argen lag.
»Die sind echt gut«, rief Danny über die dröhnende Musik hinweg.
Amber lächelte Danny an.
»Woher kennst du die noch mal?«
Fast wäre ihr das Lächeln aus dem Gesicht geglitten. »Der Manager ist ein Freund von mir«, sagte sie vage und nahm einen weiteren Schluck Stella.
Das stimmte nicht ganz. Frank, der The Vone seit einiger Zeit managte, war ein Freund von Ambers Ehemann gewesen.
Eine Welle der Traurigkeit rollte durch Amber.
Mist, ich bin doch hergekommen, um mich abzulenken.
Gedanken an Sean waren das Letzte, was sie jetzt brauchte. Tränen brannten in ihren Augen. Sie wandte den Kopf von Danny ab und fuhr sich möglichst unauffällig mit der freien Hand über die Augen.
Wenn die jetzt wenigstens grad eine schnulzige Ballade spielen würden. Dann könnte ich so tun, als sei ich einfach nur sentimental veranlagt.
Doch der einzige Song von The Vone, bei dem man sentimental werden könnte, It Will Always Be You, stand heute nicht auf der Setlist. Heute wurde nur schnörkelloser Hardrock gespielt.
Aber selbst wenn, ich glaube, dass ich nicht zur sentimentalen Sorte gehöre, hat Danny bei unserer Zusammenarbeit bereits bemerkt.
Amber schluckte und sah wieder zur Bühne. Die Spielfreude der jungen Musiker war wirklich erstaunlich. Um sich abzulenken, sang sie den Refrain mit. Den kannte sie auswendig, denn Burn to Ashes war einer der Songs auf ihrer Playlist, die sie beim Joggen hörte.
Während sie noch den Text schmetterte, bemerkte sie, dass Danny mit der freien Hand in seiner Jackentasche wühlte und sein Smartphone hervorzog.
Ein Anruf so spät am Abend konnte nichts Gutes bedeuten. Nicht wenn das Handy einem Polizisten gehörte.
Sie streckte die Hand aus und nahm Danny das Pintglas ab, damit er in Ruhe telefonieren konnte. Dabei sah sie den Namen, der auf seinem Display stand. Der Anruf kam von Christopher Walmsley.
Detective Chief Inspector Walmsley.
Nach Ambers Ausscheiden aus dem Dienst hatte Chris ihren Posten übernommen. Er war Dannys direkter Vorgesetzter.
Amber studierte Dannys Gesichtsausdruck. Gerunzelte Stirn, angespannter Unterkiefer. Das Handy am rechten Ohr, die linke Hand auf das andere Ohr gepresst.
Er warf ihr einen flüchtigen Blick zu, dann deutete er mit dem Kopf in Richtung Ausgang.
Amber nickte und folgte ihm durch die doppelflügelige Schwingtür in den vorderen Bereich des Water Rats und weiter hinaus auf die Straße. Hier war die Musik nur noch gedämpft zu hören und Danny konnte in Ruhe telefonieren.
»Sag mir bitte noch einmal ganz genau, wo? Leicester Square. Okay. Ja, ich komme sofort.«
Danny schob das Telefon zurück in die Jackentasche und nahm Amber sein Glas wieder ab. Er wollte schon einen Schluck nehmen, überlegte es sich dann aber anders und stellte seinen Cider auf einem der Tische ab, die vor dem Pub auf dem Gehsteig standen.
»Was ist passiert?«
»Ein Mord in einer Kirche«, sagte Danny.
»Wo ist denn bitte am Leicester Square eine Kirche?« Jetzt runzelte auch Amber die Stirn. Wenn sie an den belebten Platz in Soho dachte, kamen ihr zuallererst Kinos, die kleine Grünanlage in der Mitte und Verkaufsstellen, die verbilligte Theatertickets anboten, in den Sinn.
»In einer Seitenstraße, er hat gesagt, die Kirche heißt Notre Dame de France. Ich hab von der auch noch nie gehört.«
»Und was ist genau passiert?«
»Ein Toter, offensichtlich erstochen. Genaueres hat er mir noch nicht gesagt.« Danny hob die Schultern. »Tut mir leid, dass dieser Abend so enden muss. Ich hatte echt total viel Spaß.« Er warf einen Blick in Richtung Eingang. »Du musst mir unbedingt bald mal erzählen, wie der Rest des Konzertes war.«
Amber zögerte nur einen Moment. Dann nahm sie noch einen großen Schluck von ihrem Bier und stellte das Glas neben Dannys noch halbvollem Cider ab.
»Ich komm mit.«